Romanautorin Marion Harder-Merkelbach: „Überlingen hat viel Faszinierendes“

Die Schriftstellerin und Kunsthistorikerin arbeitet an einem Roman-Zyklus. Im Interview erklärt sie, warum ihre Werke fast durchgehend am Bodensee spielen.


Die Fragen stellt Siegmund Kopitzki.

 

Frau Harder-Merkelbach, auf Ihrer Homepage zitieren Sie Leonardo da Vinci. Das Zitat hilft zu verstehen, was Sie als Schriftstellerin umtreibt: „Wer zur Quelle gehen kann, gehe nicht zum Wassertopf“. Sie betreiben für Ihre historischen Romane intensive Quellenforschung, Sie reisen an die Flecken der Welt, die in Ihre Romane Eingang finden.

Ich betreibe sowohl Quellen- als auch Literaturforschung. Es ist faszinierend, was man in der Literatur, seien es Sagen, Vitae oder wissenschaftliche Schriften aus weiter Vergangenheit, entdecken kann. Auf meinen Reisen suche ich nach der Atmosphäre oder den unterschiedlichen Stimmungen. Dies auch um das Lebensgefühl und die Einflüsse auf die handelnden Personen einzufangen. Darüber hinaus suche ich nach unscheinbaren Zeichen, die in keinem Fremdenführer oder Geschichtsbuch stehen. Man muss ein Auge dafür entwickeln. Denn ich bin auf eine vergessene Geschichte gestoßen und die hat Zeichen hinterlassen.


Und doch bleiben Sie nicht bei der ganzen Wahrheit. Sie räumen ein, dass Ihnen die Gattung des Romans die Möglichkeit der Verbindung von Forschung und Fiktion bietet.

Eine Rezensentin hat mal geschrieben, die Forschung hätte in meinen Romanen mehr Gewichtung und dann käme die Fiktion. Die vergessene Geschichte, die ich aufzuarbeiten versuche, ist in jeder Beziehung schwer zu fassen. Also mündet die kreative Vorstellungskraft in der Fiktion – ein tiefsinniges Vergnügen! Selbstverständlich liegt mir viel daran, die Psyche der historisch belegten Charaktere zu verstehen. Schließlich war jeder von ihnen Liebe und Hass, Freud und Leid, Erfolg und Neid, Leben und Tod ausgesetzt. An diesen aufwühlenden Gefühlswelten sollen die Leserin und der Leser teilhaben.


Ihre Romane spielen fast durchgängig am Bodensee, vom Debüt „Der Medicus vom Bodensee“ von 2008 bis zu Ihrem 2022 erschienen Buch „Friede“. Ist der See wirklich der Nabel der Welt, wie es in einer Verlagsinformation heißt?

Die Handlungsorte meiner Romane reichen – vom Bodensee ausgehend – von Irland/Schottland bis nach Italien. Das kulturelle Netzwerk, dem ich nachspüre, formierte sich seit dem Beginn unserer neuen Zeitrechnung. Dies zu organisieren, erforderte das Reisen der Beteiligten durch ganz Europa. Am Bodensee laufen viele Fäden zusammen. Daher finde ich, dass die Vorstellung vom Nabel der Welt durchaus passend ist.


Um die Regionalität etwas einzukreisen: Überlingen ist ein immer wiederkehrender Schauplatz Ihrer Romane, auch in „Friede“. Dieser Roman trägt den Titel der Protagonistin, einer heidnischen Linzgauerin. Dürfen Ihre Romane auch als Hommage an die Stadt verstanden werden, in der Sie leben?

Überlingen hat für mich viel Faszinierendes, das andere Städte am See nicht haben: die Felswände mit den Heidenhöhlen, die bedauerlicherweise dem Straßen- und Eisenbahnbau zum Opfer fielen. In Zeiten, als der Mensch noch in den Kreislauf der Natur eingebunden war, wurden geologischen Besonderheiten magische Kräfte verliehen. Außerdem treten in Überlingen Namen von europäischem Rang auf. So zum Beispiel Luzius und Gallus, die auch in dem neuen Roman „Friede“ eine überraschende Rolle spielen.

Die Goldbacher Kapelle und das revolutionäre Palast-Garten-Ensemble des Reichlin-von-Meldegghauses (erbaut vom „Medicus vom Bodensee“) sind nördlich der Alpen einzigartige bauliche und künstlerisch wegweisende Zeitzeugen. Sowohl hinter den Namen als auch hinter der Baukunst verbergen sich revolutionäre, aber auch mutige Köpfe mit viel Wissen. Mich interessiert die Welt, die sich in ihren Köpfen abgespielt haben könnte.


In „Die geheime Quelle vom Bodensee“, es ist das erste Buch der Trilogie, zu der „Wahrheit und Irrtum“ und „Friede“ gehören, entführen Sie Ihre Leser ins zweite Jahrhundert nach Christus und in eine Welt voller Mysterien. Das „X“ ist dabei das Erkennungszeichen eines geheimnisvollen Netzwerks, das zur Heilung der Welt beitragen soll. Für mich ist es zunächst der 24. Buchstabe des klassischen modernen lateinischen Alphabets.

Es steht bei den Lateinern auch für die Zahl zehn. Es kann auch das Mal-Zeichen sein, ein Andreaskreuz, wenn man es dreht ein Pluszeichen, ein Platzhalter, es kann aber auch für X-Mas stehen, so in den anglistischen Ländern. Bei den Griechen ist es das Chi und Chi wiederum steht bei den Buddhisten für Energie. Worauf ich in meinem Roman hinaus will, ist, dass XP, Chi Rho für griechisch ΧΡήστος/Chrestos steht und damit auch als ein Zeichen für das Gute, die Vernunft, den Verstand interpretiert werden kann.


Im Sprachgebrauch versteht man unter Esoterik Geheimlehren. Ist die Beobachtung richtig, dass Ihre Bücher esoterische Elemente enthalten?

Man muss den heute vielfach negativ behafteten Begriff der Esoterik von seiner ursprünglichen Bedeutung abgrenzen. Mir geht es in meinen Romanen um das (heilige) universale Wissen, das von den alten Ägyptern an die Skythen, Thraker, Druiden weitergegeben wurde. Es war mit einer jahrzehntelangen Ausbildung verbunden, wurde nur mündlich an Würdige tradiert und das macht es so schwer greifbar.

Nach meinen Erkenntnissen war es beinahe europaweit verbreitet und selbst die Evangelien zeigen entsprechende Einflüsse. Mit den hochgebildeten Iroschotten als Protagonisten meiner Romane verfolge ich den Weg des christlich geprägten Universalwissens an den Bodensee und stelle die Frage: Wie konnte dieses Wissen verloren gehen?


Für die Romane „Wahrheit und Irrtum“ und „Friede“ haben Sie ein Verzeichnis der wichtigsten Personen und Handlungsorte vorgelegt. Ihre Bücher fordern die ganze Aufmerksamkeit der Leser?

Absolut. Es liegt mir ja daran, eine von unserer Gesellschaft vergessene Geschichte aufzuarbeiten und sie möglichst anschaulich, aber auch spannend wiederzugeben. Dies auch um eine neue Perspektive zu gewinnen, nämlich den Blick auf ein Christentum, das zunächst nicht von den Machtstrukturen Roms beeinflusst war. Zu jenem Christentum gehörte die Gleichwertigkeit aller Menschen, der Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen, die Wertschätzung der Natur und der Tiere, medizinische Forschung, auch auf der Grundlage der heidnischen Schriften. All das sind wichtige und noch heute brandaktuelle Themen.


Sie publizieren im eigenen MHM-Verlag.

Ich habe mit Verlagen zusammengearbeitet, aber auch Angebote nicht wahrgenommen, da sie mich in meiner schriftstellerischen Freiheit eingeschränkt hätten. Meine Erfahrung ist, dass große Verlage häufig nach dem Mainstream suchen. Ich dagegen suche nach den Quellen und nach dem anderen Blick auf unsere Vergangenheit, auch um die Gegenwart besser zu verstehen.


Ihre Spurensuche geht weiter?

Natürlich werde ich mit vollem Enthusiasmus die intensiven Recherchen nach dem Verlorengegangenen in unserer Geschichtsschreibung fortsetzen. Dabei stehen in meinem jetzt folgenden Roman die Weltkulturerbestätten St. Gallen und die Insel Reichenau im Mittelpunkt. Ziel meiner Serie ist es, wieder dort anzukommen, wo meine Spurensuche begonnen hat: im 15. Jahrhundert bei Leonardo da Vinci und beim Medicus vom Bodensee.


Südkurier 2023